Wir neigen dazu die Menschen zu schnell zu verurteilen und in Schubladen zu stecken. Wir achten auf äußerliche Verhaltensweisen, auf Dinge, die sie sagen, wie sie sich kleiden, ob und wie sie sich benehmen. Wir achten nicht mehr auf die Emotionen, die aus unangenehmen, konfliktbehafteten Situationen klar und deutlich sprechen wollen.
Wir teilen Kinder in liebe, brave, höfliche Kinder und böse, unartige, unerzogene ein oder bewerten sie sogar als verzogen. Doch was passiert mit einem Kind was zum einen als Täter und zum anderen als Opfer einkategorisiert wird? Die Antwort erfordert ein genaueres Hinsehen und dafür fehlt leider vielen von uns die Zeit und erst recht, die Geduld.
Es ist so einfach wenn man glaubt, sein eigenes Kind verhält sich in jeder Situation korrekt, egal wie alt es ist und verständnisvoll es demnach schon sein sollte. Es scheint so leicht, sich über das andere Kind und über dessen Eltern zu stellen, welches nicht nach unseren Vorstellungen „funktioniert“. Wir glauben, dass sich die anderen ändern müssen, um gesellschaftsfähig sein zu können. Doch was geht da vor sich?
Aus meiner Sicht haben wir verlernt unsere Gefühle wahrzunehmen und sie in den Momenten zuzulassen, wo sie gerade gefühlt werden wollen. Wir müssen uns beherrschen, benehmen, anpassen können. Wir achten nicht auf Stressfaktoren, die so mitentscheidend sind für die Reaktionen von uns Menschen, dass wir nach den alten Erziehungsschemata vorgehen und uns somit im Hamsterrad der Spaltung halten.
Viele Erwachsene sagen nicht mehr klar ihre Gefühle und Bedürfnisse, sondern verurteilen einfach die, die nicht die gleiche Meinung haben, ohne die Hintergründe überhaupt wissen zu wollen. Kinder haben verlernt zu streiten, ohne dass Eltern oder Lehrer eine Position einnehmen. Somit kann Versöhnung nicht mehr natürlich entstehen, sondern fördert aufgezwungenes, antrainiertes, emotionsloses Verhalten und züchtet Täter sowie Opferrollen weiter heran.
Die meisten Verhaltensweisen von uns Erwachsenen, sind Resultate der Angst und der Überforderung. Wir gehen in den Verteidigungsmodus über. Ob das nun Entscheidungen über Maßnahmen zur Erhaltung unserer Gesundheit sind -in welcher Form auch immer- oder ob es unsere Kompetenz als Elternteil, Lehrer, Geschäftsführer oder Teammitglied in Frage stellen könnte.
Wir wollen immer die sein, die sich richtig verhalten. Somit verurteilen wir schnell, die Menschen, die einen anderen Weg gehen, denn diese verunsichern uns und das macht uns wieder Angst. Kinder schauen das von uns ab und spüren unsere eigene Unsicherheit.
Wir agieren nicht mehr bewusst, wir reagieren. Unsere Reaktion bestimmt unseren eigenen Umgang mit unseren Gefühlen. Neigen wir dazu, sie zu kontrollieren (Selbstkontrolle) oder nehmen wir sie wahr und können sie regulieren (Selbstregulierung)?! Wir erziehen unsere Kinder zur Selbstkontrolle und ersticken damit ihre natürliche Anbindung an ihre Gefühlswelt.
Selbstkontrolle mag eine Weile funktionieren, aber nur solange, wie du den Rucksack mit den kontrolliert, zurückgehaltenen Gefühlen tragen kannst. Es reicht ein Trigger und schon platzt es unkontrolliert aus dir heraus und du merkst erst hinterher, was es beim Gegenüber angerichtet haben könnte. Wenn ein sensibles Kind, was keine andere Bewältigungsstrategie als Rückzug und die Erkenntnis von : „die Welt ist ungerecht und böse zu mir“ gelernt hat, auf so eine Situation trifft, ist Opfer und Täter schnell identifiziert.
Eltern und Lehrer sind meist überfordert und schieben die Schuld von einem zum anderen und in letzter Konsequenz, fliegt das „böse Kind“ von der Schule und das „Opferkind“ lernt es nie, sich in der Welt selbstsicher behaupten zu können. Wir können nicht davonlaufen. Es wird ein anderes Kind den Platz des Störenfrieds einnehmen, wenn wir unsere Kinder nicht im Selbstbewusstsein und mentaler Stärke schulen. Ein Teufelskreis…
Es trägt den schweren Rucksack voll mit der Angst, wieder in so eine Situation geraten zu können, weiter mit sich herum. Das „böse Kind“ wird von Schule zu Schule dasselbe tun, da es sich ja eh nicht verstanden fühlt und seinen Stempel bekommen hat. Doch es reflektiert nur. Es verhält sich so, wie andere ihm gegenüber treten. Spürt es die Ablehnung, hat es kaum eine Chance sich anders zu verhalten, als so wie es bewertet wird.
Glaubt ihr wirklich, dass sich Kinder aus Lust und Laune dazu entscheiden aggressiv zu werden? Einfach nur, weil es ihnen Spass macht? Sie können den Stress nicht regulieren. Viele Kinder sind zusätzlich zum Leistungsdruck auch licht und -geräuschempfindlich und reagieren stark gereizt unter diesen Einflüssen. Angestaute Emotionen sind nicht kontrollierbar. Das ist alles wichtig zu wissen. „Erziehung“ funktioniert nicht mehr! Liebevolle Begleitung, sollte der neue Ansatz sein, um jedes Kind in seinem höchsten Potential zu erkennen und darin zu stärken.
Vielleicht ist der vermeintliche Täter das sensiblere Kind und es hat zu lange im Zustand der Selbstkontrolle verharrt. Es verteidigt die Mauer um sich herum, um nicht seine eigene Verletzlichkeit zu zeigen. Wir sehen nicht was unsere Kinder in dieser heutigen Zeit alles abfedern müssen- wieviel Reizen sie ungefiltert ausgesetzt werden. Wir versuchen ihnen beizubringen wie man sich in der Gesellschaft verhalten sollte und vergessen dabei, dass sie zu aller erst lernen müssen wie sie ihre Gefühle verstehen können, um auch damit umgehen zu können.
Wo bekommen denn Kinder einen geschützten Raum, um ihre Wut und Stress rauslassen zu können? Wer lernt ihnen was Scham, Angst, Wut, Liebe, Traurigkeit überhaupt bedeutet und welche Bedürfnisse hinter unseren Gefühlsausbrüchen liegt, wenn wir Erwachsenen das noch nicht einmal klar wissen? Verhalten sich Kinder wütend oder sogar aggressiv, dann bestrafen oder maßregeln wir sie. Erwachsene stehen machtvoll über ihnen und belehren, von oben herab schauend, das „böse Kind“. Dieses wird sich demnach schnell ein neues Opfer suchen, wo es diese Situation einem schwächeren Kind gleichtun kann….von oben herab schauend, machtvoll, Unzufriedenheit ausdrücken.
Wir sollten wieder genauer hinhören!!! Nicht was sagt ein Kind zu einem anderen- sondern wie sagt es das. Welche Botschaft steckt dahinter? (Quelle: Das überreizte Kind von Dr. Stuart Shanker)
Wir leben derzeit in einer gespaltenen Gesellschaft und tun nichts anderes als dieses Spiel mitzuspielen. Wir geben unseren Ängste mehr Macht als unseren wahren Kern. Mehr Zuhören, mehr Mitgefühl, Verständnis, Menschlichkeit und neue Strategien sind jetzt wichtig. Nur so können wir aus Opferrollen heraustreten und finden den Weg in die Selbstermächtigung. Bewerten und verurteilen ist nicht die Lösung! Wir können nur den Umgang mit anderen Menschen verändern, damit sie sich selbst verändern können und das auch wollen.
Unsere Welt braucht jetzt die Veränderung und NUR WIR SIND DIE VERÄNDERUNG!
Deine Anja